Tages-Anzeiger vom 1. Februar 2021
Der unerwartete Corona-Nothelfer
Von Daniel Schneebeli. Link zum Artikel (benötigt ein Abo).
Ein junger Linker aus dem Kreis 5 ist höchster Finanzpolitiker im Kantonsrat und neuer Liebling der Gewerbler. Wie schafft Tobias Langenegger das?
Seit Wochen ist Tobias Langenegger fast ständig am Telefon. Am Draht sind verzweifelte Beizer, Hoteliers und Gewerbler, die nicht wissen, wie sie den Winter überstehen sollen. Sie brauchen Geld, denn selber verdienen geht nicht. Vielleicht kann Langenegger helfen, immerhin ist er Sozialdemokrat und Chef der Finanzkommission im Kantonsrat.
Auch an diesem kalten Morgen hat Langenegger den Hörer am Ohr, als er vom Velo steigt. Die Stirn liegt in Runzeln, unter seiner Wollmütze schauen die blonden Haare hervor. «Ich sehe Ihr Problem, ich werde mich drum kümmern.»
Am Apparat ist Alex Bücheli, Pressesprecher der Bar- und Clubkommission. Zu jenem Zeitpunkt sind 260 Millionen Franken für die Härtefallhilfe freigegeben, doch an das Geld heranzukommen, ist für viele Clubbetreiber schwierig. Mit den Formularen und Fragen sind sie überfordert. «Es ist ein Glücksfall, dass wir Tobi haben», wird Bücheli später sagen.
«Hey, das ist heftig», sagt Langenegger, zieht seine Mütze vom Kopf und streicht die Haare hinter die Ohren. Ständig tauchen neue Probleme auf, «die Menschen sind wirklich am Anschlag.» Sogar an Heiligabend zog er sich für längere Zeit zurück – für eine Lagebeurteilung mit Ernst Stocker, dem SVP-Regierungsrat und Finanzdirektor des Kantons Zürich.
Im Herzen auch ein Landei
Dass ausgerechnet ein 35-jähriger Sozialdemokrat aus dem Kreis 5, der in der Freizeit in der alternativen Liga Fussball spielt, zum höchsten Finanzpolitiker des Kantons geworden ist, bezeichnet Langenegger als reinen Zufall: «Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort.»
2015 ist Langenegger in den Kantonsrat nachgerückt für Angelo Barrile, der in den Nationalrat gewählt worden war. Gewöhnlich starten junge Sozialdemokraten aus Zürich ihre Karriere im Stadtparlament. Langenegger nicht. Auch dies sei kein gezielter Entscheid gewesen, sagt er. Weil sein Vater ein Jahr zuvor gestorben war, hatte er auf eine Kandidatur für den Gemeinderat verzichtet. Dennoch ist es mehr als nur Zufall, dass er sich für den Kantonsrat entschied. Denn Langenegger ist im Herzen auch ein Landei, wie er sagt. Aufgewachsen ist er in Rüti und in Uster.
Als studierter Ökonom wurde Langenegger im Kantonsrat bald in die Finanzkommission abgeordnet, und dort gab es keine Schonfrist. Der Regierungsrat wollte sparen, das Sparpaket hiess Lü16 und war aus der Sicht von Langenegger vollkommen unnötig. Also kniete er sich in die komplexe Materie und lancierte mit Fraktionsgenossinnen die Debatte darüber – zuerst in der SP, und kurz darauf war er auch im Kantonsrat einer der Wortführer.
Fünf Jahre später ist Langenegger stolz auf das Erreichte, denn von Lü16 ist praktisch nichts übrig geblieben. Eine Sparmassnahme nach der anderen war mithilfe der Bürgerlichen rückgängig gemacht worden. «Wir konnten zeigen, dass es dem Kanton viel besser geht, als es uns Ernst Stocker ständig glauben macht.» Im Unterschied zur Corona-Krise sei dies eine gesuchte Krise gewesen.
Jacqueline Fehr: «Grosses Talent»
Tobias Langenegger vertritt die typische sozialdemokratische Finanzpolitik: Sozialausgaben vor Steuerfuss. Mit dieser Haltung ist er auch im 2019 neu gewählten, grüneren Kantonsrat in der Minderheit. Dennoch haben ihn die anderen zum Präsidenten der Finanzkommission gemacht. Und auch in der SP-Fraktion ist er inzwischen Vizepräsident.
SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr weiss, warum das so ist. «Tobi Langenegger ist ein sehr starker Netzwerker. Und kann es auch gut mit Menschen, die anders denken. Er drängt sich nicht auf und trägt das Parteiprogramm nicht ständig auf der Brust. Das schafft Vertrauen.» Zudem scheue Langenegger die Arbeit nicht. Das kantonale Budget zum Beispiel präsentiere er der SP-Fraktion jedes Jahr auf selber hergestellten, übersichtlichen Tabellen. Sie sieht in Langenegger ein «grosses Polittalent».
Solche Worte würde Beatrix Frey nie wählen. Die freisinnige Finanzpolitikerin ist Chefin der FDP-Fraktion im Kantonsrat. Aber wie Ernst Stocker attestiert auch sie ihm gutes Fachwissen und konstruktive Zusammenarbeit. Allerdings habe er es momentan auch nicht schwer, findet Frey. Denn alle wollten in der Corona-Krise Schäden vermeiden, und alle wollten Firmen retten. «Der Härtetest wird für Langenegger kommen, wenn alle geimpft sind und wir vor der Frage stehen, wie wir mit dem angehäuften Schuldenberg umgehen.» Dann werde es fertig sein mit der Einigkeit.
Viel Verständnis fürs Gewerbe
Langenegger sei ein sympathischer Typ und stets gut vorbereitet, findet Gewerbler Jürg Sulser, der für die SVP in der Finanzkommission sitzt. Doch die «Sozi-Haltung» drücke manchmal durch: «Wenn es um Härtefälle geht, sieht er immer zuerst die Künstler.» Zudem sei es für den Geldausgeber Langenegger im Moment einfach, gute Figur zu machen. Er, Sulser, müsse den Leuten eben auch klarmachen, dass die riesigen Summen am Ende jemand bezahlen müsse: «Ich will nicht, dass wir im nächsten Jahr die Steuern um 5 Prozent erhöhen müssen.»
Alex Bücheli von der Clubkommission freut es, dass Langenegger die Kultur am Herzen liegt: «Tobi ist ein Stadtmensch, und er weiss, welchen Mehrwert Kultur und Nachtleben für Zürich bringen.» Was Bücheli besonders schätzt: Dank Langenegger hat er einen direkten Draht zu Regierungsrätin Jacqueline Fehr und zur Fachstelle Kultur.
Aufmerksam geworden auf Langenegger sind auch die Zürcher Hoteliers. Mit Yvonne Hiller, der Geschäftsführerin des Hotellerievereins, ist er wegen der zweiten Tranche der Nothilfegelder im regelmässigen Austausch. Langenegger arbeite zügig und habe gutes wirtschaftliches Verständnis. Vor allem aber sei er hilfsbereit, sagt Hiller, die für die Grünliberalen im Einwohnerrat von Wettingen politisiert: «Tobias Langenegger macht einen Superjob.»
Inexistent in den sozialen Medien
Sich selber sieht Langenegger als dezidiert linken Sozialdemokraten, dem aber der Austausch mit allen Genossen wichtig ist. So schwimmt er als Mitglied des OK Röntgenplatzfest mitten im Kuchen des linken Zürichs. Nur bei den Juso war er nie. Als «Jugendsünde» ist ihm das schon ausgelegt worden, und auch ihm selber ist es ein bisschen peinlich. Seine Entschuldigung: Vor Mattea Meyer und Cédric Wermuth seien die Juso nicht so populär gewesen. Er beteuert: «Wenn ich heute noch mal 16 wäre, würde ich sofort beitreten.» Kantonsrätin und Juso-Vorstandsmitglied Leandra Columberg mag Langenegger nichts vorhalten: «Er ist ein solider linker Sozialdemokrat.»
Einen Schwachpunkt gibt es bei Tobias Langenegger: In den sozialen Medien ist er praktisch inexistent. In der Partei sei ihm schon sanft nahegelegt worden, seine Reichweite zu erhöhen. Doch die Avancen blieben wirkungslos. Langenegger hat zwar ein Facebook-Konto, auf dem er jedes Jahr das Plakat fürs Röntgenplatzfest postet und bei dieser Gelegenheit auch «tonnenweise Freundschaftsanfragen» akzeptiert. Doch für eine seriöse Bewirtschaftung des Accounts fehle die Zeit: «Das hat bei mir einfach keine Priorität.»
Geteilte Erziehungsarbeit
Vorher kommt die Freizeit. Sollte es im Frühling wieder möglich sein, wird er zusammen mit seinen Buben, seinem Bruder und dessen Kindern an die FCZ-Matches gehen. Und als Hip-Hopper würde er gerne auf seinem Keyboard wieder etwas mehr Musik machen. Doch weil auch dazu die Zeit nicht reicht, beschränkt er sich aufs Musikhören – etwa beim Wäscheaufhängen, einem Teil der Hausarbeit, die ihm in der Familie zugeteilt ist.
Und wie wird Langeneggers Weg in der Politik weitergehen? «Ich traue ihm alles zu», sagt Regierungsrätin Fehr. Er selber will lieber nicht über seine Karriere reden. Schliesslich ist er auch noch 50-Prozent-Mitarbeiter in einem Planungsbüro und zudem als Vater ziemlich gefordert, denn er teilt sich mit seiner Partnerin die Erziehungsarbeit. Über seine Zukunft spricht Langenegger wie ein Fussballspieler: «Ich konzentriere mich nur auf das nächste Spiel.» Übersetzt heisst das: auf die Arbeit als Corona-Nothelfer.